Auf Deutsch Rezension: Evangelisch-Lutherisches Kirchengesangbuch durch Dr. Ben Mayes
Rezension: Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, Evangelisch-Lutherisches Kirchengesangbuch (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2021).
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Die Schwesterkirche der Lutheran Church Missouri Synod (LCMS) in Deutschland ist die Selbständige Evangelische-Lutherische Kirche (SELK), und sie hat ein neues Gesangbuch unter dem Titel Evangelisch-Lutherisches Kirchengesangbuch herausgebracht. Abgekürzt wird es mit ELKG2, um es von dem ausgezeichneten Gesangbuch von 1987 mit dem gleichen Namen zu unterscheiden (abgekürzt ELKG1).(1) Das neue Gesangbuch ist kostengünstig bei der Deutschen Bibelgesellschaft erhältlich (https://www.die-bibel.de/shop/SELK-Gesangbuch/). Das Gesangbuch ist für eine liturgische Kirche vermutlich das bedeutendste öffentliche Glaubensbekenntnis. Von diesem Buch werden die nächsten Generationen ihren christlichen Glauben lernen und bekennen. „Die Regel des Betens soll die Regel des Glaubens niederlegen“ (Lex supplicandi statuat legem credendi) (2), wie Prosper von Aquitanien beteuert, und dies erinnert uns an die enge Verbindung zwischen dem Glauben, der liturgisch bekannt wird, und dem Glauben, mit dem jemand zur Seligkeit glaubt. Deshalb verlangt das Erscheinen eines neuen Gesangbuches jedes Mal nach einer gründlichen inhaltlichen Untersuchung mit dem Ziel, sich des darin bekannten Glaubens zu vergewissern und sich an der Gemeinschaft des Glaubens zu erfreuen, wenn sie darin gefunden wird.
Äußerliche Form: Sprachlich vermeidet das neue Gesangbuch Wörter mit lateinischer Herkunft und bevorzugt Wörter mit deutscher Herkunft (z.B. „lebt und herrscht,“ S. 470, anstelle des älteren „lebt und regiert“). Viele vor allem neuere und ursprünglich englische Lieder sind mit zusätzlichen englischen Strophen abgedruckt. Gelegentlich sind auch lateinische Strophen oder Antiphone verfügbar. Das neue Gesangbuch ist bedeutend größer (1820 Seiten im Vergleich zu 1296 im Gesangbuch von 1987; 12cm x 18cm im Gegensatz zu den 10.4cm x 16.4cm von 1987). Die Farbe für Akzentuierungen hat von rot zu blau gewechselt. Anstelle von Rubriken (rot gedruckte Anweisungen) haben wir jetzt „bluebrics“ (wie ich es nenne). Das Gesangbuch ist durch blaue Titelseiten unterteilt, wodurch das Aufschlagen einer der 19 Abteilungen vereinfacht wird. Das Gesangbuch hat eine robust genähte Binding und ist ausgestattet mit einem blauen Buchumschlag inklusive eines neuen Logos. Das Logo ist ein abstraktes Kreuz, das aus unregelmäßigen geometrischen Formen besteht, wozu keinerlei Erklärung im Gesangbuch zu finden ist. Die Internetseite selk-gesanguch.de erläutert, dass – abgesehen von dem Kreuz – die geometrischen Formen keine bestimmte Bedeutung haben. Man könne sie auf vielfältige Weise interpretieren, z.B. als „die Einheit von Christus und seiner Gemeinde,“ oder „die Gaben des Geistes im Leib Christi,“ oder „die Vielfalt an Elementen zur Gestaltung von Gottesdienst und persönlichen Glaubens.“ Mehrdeutigkeit, Vielseitigkeit und Vielfalt kennzeichnen meiner Meinung nach nicht nur das Logo des neuen Gesangbuches, sondern auch dessen Inhalt.
Der Hauptgottesdienst: ELKG2 bietet mehr musikalische Optionen als ELKG1. Das alte Gesangbuch hatte viele Varianten innerhalb der einen Ordnung der Abendmahlsfeier. ELKG2 hat zwei „Formen“ des Abendmahlsgottesdienstes. Ordnung 1 ist der traditionelle Abendmahlsgottesdienst, wie er LCMS-Lesern aus dem Lutheran Service Book (LSB), Divine Service Setting 3, bekannt ist. Das neue Rüstgebet bekennt Lieblosigkeit und Versuchung, aber nicht, dass wir gesündigt haben in Gedanken, Worten und Werken, wie es im alten Rüstgebet hieß. Außerdem wird jegliche Erwähnung unserer sündhaften Natur unterlassen (S. 21). Ordnung 2 des Gottesdienstes mit Heiligem Abendmahl ist der novus ordo, wie er Lutheranern der LCMS von LSB, Divine Service Settings 1 und 2, bekannt ist. Die Hauptmerkmale sind hier: kein Introitus, aber dafür Psalmodie im Anschluss an die alttestamentliche Lesung (S. 36-39). In dieser Ordnung gibt es eine optionale Epiklese (Bitte um den Heiligen Geist), eine Akklamation, eine Anamnese (Heilsgedächtnis), und eine Weitergabe des Friedensgrußes unter den Gemeindegliedern (S. 40-43). Bemerkenswerterweise ist Ordnung 2 identisch mit der Ordnung des Gottesdienstes im Evangelischen Gesangbuch (EG) der Landeskirchen in Bayern und Thüringen (3).
Einer der problematischsten Aspekte des neuen Gesangbuches besteht sowohl in dem Apostolischen als auch Nicänischen Glaubensbekenntnis. SELK-Gemeinden können jetzt auch die aus dem Jahre 1971 stammende „revidierte Version“ dieser Bekenntnisse verwenden – die Version, die von den zum Lutherischen Weltbund (LWB) gehörigen Landeskirchen revidiert wurde. Diese LWB-Kirchen haben die Zeile „niedergefahren zur Hölle“ umgewandelt in „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Folgende Erläuterung wird durch eine Fußnote bereitgestellt: „Gemeint ist ein Ort (endgültiger) Gottesferne“. Die gleiche mehrdeutige Aussage erläutert ebenso das unveränderte Glaubensbekenntnis. Dabei ist diese Glosse selbst schon problematisch. Die Hölle sollte gewiss nicht als ein Ort beschrieben werden, wo der unendliche, allgegenwärtige Gott abwesend oder von dem er weit entfernt ist. Was die Hölle schlimm macht, ist nicht Gottes Abwesenheit, sondern seine Vergeltung übende Gegenwart (Mt 10,28; vgl. Ps 139,8). Die revidierte Version des Apostolikums nimmt außerdem die Formulierung „Gemeinschaft der Heiligen“ als Übersetzung für „communionem sanctorum“ auf, welche (auch wenn sie mit der LCMS-Übersetzung der Glaubensbekenntnisse übereinstimmt) dennoch im Widerspruch zu Luther im GK II 49 (BSELK, S. 1062) steht. Die Fußnote scheint mir hier ebenfalls falsch zu sein. Mit „Gemeine der Heiligen“ meinte Luther eine „Versammlung heiliger Leute“ und nicht „die ‘all-gemeine Kirche‘“. Und während Luther zwar auch von solchen wusste, die die Wendung communio sanctorum verstanden haben als „Gemeinschaft an den heiligen Dingen“ (d.h. die Gnadenmittel, oder konkret den Leib und das Blut Christi im Abendmahl), hielt er dies nicht für die buchstäbliche Bedeutung der Worte (GK II 49-51; BSELK, S. 1062–1064) (4). Die revidierte Version des Nicänischen Glaubensbekenntnisses weicht wiederum von dem Wortlaut der lateinischen Tradition als auch von dem Konkordienbuch ab, indem es die erste Person plural verwendet: „Wir glauben“ anstelle von „Ich glaube“.
Die alternativen Glaubensbekenntnisse werfen Fragen auf. Warum sollte die SELK es ihren Gemeinden erlauben wollen, das Bekenntnis von FC XI und Christi Niederfahrt in die echte Hölle zu vermeiden? Sind sogenannte „ökumenische“ Versionen von Texten, die mit den häretischen LWB-Kirchen geteilt werden, ein hinreichender Grund, um das Bekenntnis der Kirche von der Höllenfahrt der Mehrdeutigkeit preiszugeben? Warum sollte der Gebrauch dieser „alternativen“ Glaubensbekenntnisse jetzt auf den Weg gebracht werden, während sie doch für eine frühere Generation der SELK für den Gebrauch nicht genehmigt wurden, und während zuvor doch ihre Fehler dargelegt wurden (5)?
Beichte: Die Tradition der Gemeinsamen Beichte in der SELK ist wertvoll. Das neue Gesangbuch bewahrt diese wertvolle Tradition, und Pastoren der LCMS sollten dies zur Kenntnis nehmen. Die Gemeinsame Beichte wird als ein eigenständiger Gottesdienst behandelt, normalerweise mit mehreren Liedern, Psalmen und einer Predigt. Als zu bevorzugende Option wird die Erteilung der individuellen Absolution durch Handauflegung vor dem Altar angesehen. Eine allgemeine Absolution ist ebenso erlaubt, wird aber nicht als gewöhnliche Option angesehen. Der Gebetsteil enthält einen Beichtspiegel mit nach dem Dekalog geordneten Fragen, die der Selbstprüfung dienen sollen. Bemerkenswerterweise fehlen die Themen Keuschheit und Unzucht beim Sechsten Gebot (6).
Lektionar: Das Lektionar im neuen Gesangbuch stimmt größtenteils mit dem aus dem alten Gesangbuch überein. Ein Ein-Jahres-Lektionar, in welchem die Evangeliumslesungen meistens mit denen des Ein-Jahres-Lektionar des LSB übereinstimmen, ist die einzige verfügbare Option. Jedoch hat das ELKG2 sehr oft nicht die historischen Episteln und Introitus. Die anstelle dessen eingesetzten Episteln sind anscheinend so ausgewählt, dass sie zu dem Thema der Evangeliumslesung passen. (Dagegen sind im LSB die historischen Evangelien, Episteln und Introitus vorhanden, aber die alttestamentliche Lesung wird passend zum Evangelium ausgewählt.) Das neue Gesangbuch stellt normalerweise nur eine jeweilige Lesung zur Verfügung, während das alte Gesangbuch (wie das LSB im Ein-Jahres-Lektionar) manchmal sowohl die historische als auch die alternative Lesung anbietet. Das neue Gesangbuch lässt die historische Lesung manchmal gänzlich aus. Die historische Epistel für den 14. Sonntag nach Trinitatis z.B. ist Gal 5:16-24 (handfeste Paränese). Das neue Gesangbuch bietet stattdessen Röm 8,14-17, wobei V. 12-13 (enthalten im alten Gesangbuch) ausgelassen werden, wodurch die apostolische Drohung mit dem Tod für alle, die nach dem Fleisch leben, entfernt wird. Eine weitere bemerkenswerte Veränderung im Kirchenjahr findet am 10. Sonntag nach Trinitatis (Nr. 56) statt, wo das neue Gesangbuch die Lesung von Lk 19,41-48 (Jesu Prophezeiung der Zerstörung Jerusalems) entfernt und stattdessen Mk 12,28-34 darbietet, womit der Sonntag zum „Israelsonntag: Kirche und Israel“ wird, was auf eine zu St. Paulus entgegengesetzte Aussage hindeutet, da dieser nämlich lehrt, dass die christliche Kirche das wahre Israel Gottes ist. Diese Änderung passt jedoch ausgezeichnet zu dem interreligiösen Dialog zwischen den LWB-Lutheranern und Juden. Hier folgt die SELK den Landeskirchen, welche den traditionellen 10. Sonntag nach Trinitatis abgeschafft haben und ihn stattdessen zum „Israelsonntag“ gemacht haben. Als Alternative bietet das neue Gesangbuch Nr. 57, welches das Lk 19-Evangelium von der Zerstörung Jerusalems hat. Auf diese Weise werden verschiedene Theologien nebeneinander im Lektionar eingenistet, von welchen Pastoren und Gemeinden dann wählen können.
Ein neuer Bußtag mit vollständigem Proprium wird für den 27. Januar zur Verfügung gestellt: „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ (367-368, Nr. 79). Die besonderen Gottesdienste für die Heilige Woche und für Ostern sind für die Gemeindeglieder in der Kirchenbank abgedruckt. Am Gründonnerstag kann der Pastor optional eine Fußwaschung vollziehen.
Lieder: Das alte Gesangbuch bietet normalerweise nur eine Option für das Hauptlied, fast immer ein klassisches lutherisches Lied aus dem 16. oder 17. Jahrhundert. Das neue Gesangbuch lässt so gut wie immer die Wahl zwischen zwei Liedern, wobei eines davon normalerweise modern oder nicht-lutherischen Ursprungs ist. Die Lieder in jedem Abschnitt beginnen normalerweise mit den altkirchlichen Liedern oder mit denen aus der Reformationszeit, gefolgt von späteren, moderneren Liedern, Jahrhundert für Jahrhundert. Insgesamt gibt es 700 Lieder (im Vergleich zu 561 im alten Gesangbuch); 19 von Luther (im Vergleich zu 35); 4 von Melanchthon (im Vergleich zu 6); 39 von Paul Gerhardt (im Vergleich zu 40); 14 von Nikolaus Herman (im Vergleich zu 12); 12 von Johann Heermann (im Vergleich zu 16); 6 von Johann Walter (ebenso viel wie im alten Gesangbuch); 10 von Michael Weisse (ebenso viel wie im alten Gesangbuch); and 13 von Jochen Klepper (d. 1942) (im Vergleich zu 11). Lieder aus dem 16., 17., 18., 20. und 21. Jahrhundert sind zahlreich vorhanden. Lieder von vor der Reformation und aus dem 19. Jahrhundert sind um einiges geringer an Zahl. Der Abschnitt zur liturgischen Musik bietet eine beeindruckende Fülle von altkirchlichen und modernen musikalischen Fassungen der Stücke der Liturgie (Nr. 100–194).
Psalmen: Das Singen von Psalmen wird derzeit sowohl im amerikanischen Luthertum (7) als auch in der SELK gepflegt. Neben gregorianischen Fassungen der Psalmen bietet das ELKG2 mehrere verschiedene Arten von Psalmen: antiphonisch, responsorial, anglikanisch and andere. Bei den Psalmen des neuen Gesangbuches handelt es sich um eine Art Kompromiss zwischen dem einfachen, universal-punktierten System des LSB, welches keine vorgeschriebene Musik bietet, und der Methode des neuen Psalters der Wisconsin Synode (WELS), welcher mehrere musikalische Fassungen für jeden einzelnen Psalm bietet (8). Niemand kann mit absoluter Gewissheit sagen, welche Methode die Psalmen effektiver in die Münder und Herzen unserer Gemeindeglieder befördert. Wenn eine musikalische Fassung zu kompliziert ist, dann wird die Gemeinde den entsprechenden Psalm nicht singen und wird ihn eventuell auch nicht einmal mehr lesen. Auf der anderen Seite wird eine vorgeschriebene und einzigartige Melodie den Leuten helfen, Psalmen auswendig zu lernen, und ich bin gewiss, dass dies zu einer Liebe für die Psalmen führen wird. ELKG2 schreibt eine musikalische Fassung pro Psalm vor, bietet aber viele verschiedene musikalische Varianten. Die Psalmenton des Introitus wechselt jeden Sonntag, was den Gemeinden Schwierigkeiten im Lernen bereiten dürfte. Während das alte Gesangbuch vier Psalmentöne für die Introitus verwendet (I, IV, V, VIII), verwendet das neue alle verfügbaren Psalmentöne für die Introitus. Neue, durchkomponierte gregorianische Antiphone werden zur Verfügung gestellt, mit der Wahlmöglichkeit zwischen zwei Antiphonen für jeden Sonntag: eine kompliziertere und eine einfachere. Dadurch werden SELK Gottesdienste an Schönheit gewinnen, aber auch an Schwierigkeit. Das Gesangbuch schlägt vor, den gleichen Introitus für mehrere Sonntage hintereinander zu benutzen, falls die neuen Introitus zu schwer sein sollten (S. 48).
Die gregorianischen Psalmentöne haben sich verändert. Im ELKG1 wird der germanische Choraldialekt des gregorianischen Gesangs verwendet (der Musikstil, der nördlich der Alpen fortbestand), welcher auch von Deutschen während der Reformationszeit verwendet wurde. Das neue ELKG2 verwendet der römische Choraldialekt des gregorianischen Gesangs, wie sie üblicherweise in römisch-katholischen und anglikanischen liturgischen Büchern vorzufinden ist. (Vergleiche die Mediatio [Mittelkadenz] des VIII. Psalmentones im alten wie im neuen Gesangbuch.) Das wirft folgende Frage auf: Warum sollte die SELK die Musik des gregorianischen Gesangs, welche in ihren Gemeinden gut etabliert ist und eine handfeste lutherische Vorgeschichte hat, verändern (9)?
Andere Psalmen verwenden eine responsoriale Fassung. Responsoriale Psalmen werden von LCMS Gemeinden derzeit nicht wirklich verwendet, aber die Beispiele aus dem neuen ELKG2 zeigen, wie schön und gewinnbringend sie sein können. Der Chor oder der Kantor singt die Verse und die Gemeinde singt einen kurzen Antwortruf nach jedem Vers. Auf diese Weise werden die Gemeindeglieder am Ende eine kurze Bibelstelle oder ein Gebet auswendig gelernt haben, wobei nicht zu viel musikalische Fähigkeit von ihnen verlangt wird. Ein gutes Beispiel im ELKG2 ist Psalm 31 (Nr. 810) mit dem Antwortruf „Meine Zeit in deinen Händen“.
Liturgie der Stundengebete: Die Mette und die Vesper im ELKG2 enthalten zusätzliche Gebete und Responsorien, die in älteren Gesangbüchern der SELK nicht zu finden sind (Nr. 900, 905, 909, 910; 920, 925, 929 und 930). Die neue Mette erwähnt nicht die Option, auch das Te Deum zu verwenden. Die Auswahl der Texte scheint die Stundengebete zu verallgemeinern, wodurch sie weniger lehrhaft werden. Anstelle des Responsoriums der alten Vesper, welches das Wort Gottes mit Ps 119,105 preist, steht jetzt ein eher allgemeiner Lobpreis der Werke Gottes aus Ps 92,5. Die Wechselgebete oder Preces (ein altbewährter Bestandteil der Liturgie der Stundengebete im deutschen Luthertum) im alten ELKG1 waren Schriftzitate, welche Sünde bekennen und für die Kirche und Mission bitten. Die neuen Preces sind außerbiblische Sprüche, welche sehr allgemein gehalten sind, und deren Schwerpunkt nicht auf Sünde und Seligkeit, sondern auf weltliche Sorge und Hilfe, Friede und Gerechtigkeit liegt (S. 1468–1469, Nr. 929–930). Die Kollektengebete für die Tage der Woche (ein weiterer altbewährter, deutscher lutherischer Bestandteil) wurden geringfügig verändert. Aus der Montagskollekte wird die Erwähnung von „Sünde“ entfernt (vgl. S. 1470 im neuen und S. 280 im alten Gesangbuch). Das neue Gesangbuch entfernt außerdem das Kollektengebet, das am Ende der Vesper Sünde bekennt (alt S. 282 im Vergleich zu neu S. 1471).
Die Komplet ist nun geschlechtsneutral (gegendert). Die alte Version begann mit „Brüder, betet um Gottes Segen!“ (ELKG1, S. 283). Das wird nun ausgelassen (Nr. 933). Ebenso wird das „Brüder“ (10) in der Lesung aus 1 Petr 5,8 ausgelassen. Das alte Gesangbuch hatte ausschließlich einen Mann für die Leitung dieses Gottesdienstes vorgesehen. „Wir bekennen Gott, dem Allmächtigen, und dir, Bruder…“ Das neue Gesangbuch erlaubt einer Frau die Leitung dieses Gottesdienstes: „und dir Bruder (Schwester)“ (S. 1473, Nr. 934). Die Komplet ist außerdem hinsichtlich weiterer dogmatischer Gesichtspunkte schwächer. Die zweite Option für das Confiteor (Sündenbekenntnis) vermeidet die Erwähnung von Sünde und bekennt nur unzureichende Liebe, wobei ebenso das dreifache Schuldbekenntnis ausgelassen wird. Und das darauffolgende Gebet bittet nicht darum, zum ewigen Leben gebracht zu werden, sondern nur „zum Leben“ (S. 1473, Nr. 935). Die SELK hat jetzt genau die gleiche Komplet wie sie im Gesangbuch der zum LWB gehörigen Landeskirchen, dem Evangelischen Gesangbuch (11), zu finden ist, abgesehen von einigen wenigen stilistischen Unterschieden.
Das ELKG2 hat außerdem „Alternative Tagzeitengottesdienste“, vom Konzept her ähnlich wie das Morning Prayer und Evening Prayer im LSB. Sie scheinen für einen gelegentlichen Gebrauch konzipiert zu sein, da bestimmte Psalmen und Lieder bereits in der Ordnung dieser Gottesdienste abgedruckt sind. Man hat keine Wahl über die Psalmen, für jeden Gebrauch des Gottesdienstes sind dieselben Psalmen festgesetzt. Im Gottesdienstablauf ist ein Lied abgedruckt, auch wenn die Anweisungen die Option offen lassen, ein anderes Lied zu verwenden. Die Gebete im Morgenlob betonen Danksagung und Lobpreis, und bitten nicht um Gottes Bewahrung seiner Kirche vor Sünde und dem Teufel (im Gegensatz zu Luthers Morgensegen). Das Mittagslob ist eher ein kurzer Segen als ein Gottesdienst. Es hat ein Lied, keine Psalmen, eine kurze Lesung, das Vaterunser und keine weiteren Gebete. (Eine ausführlichere Ordnung für ein Mittagsgebet, die für den privaten Gebrauch gedacht ist, findet sich auf den Seiten 1574-1576.) Das Abendlob ist strukturell wie das Morgenlob. Die Gebete und Lieder betonen Lobpreis, Frieden, Sorgen und Hilfe, nicht aber Vergebung der Sünden, Vorbereitung auf das Sterben, oder den Schutz vor dem Satan durch Engel (im Gegensatz zu Luthers Abendsegen).
In das ELKG2 wurden Taizé-Musik und Gebetsformen eingegliedert. Gebete nach Taizé bestehen aus Liedern, responsorialen Psalmen, Bibellesungen, und responsorialen Gebeten im Ektenie-Format. Die Themen beinhalten Lobpreis, Friede, Sorgen und Hilfe, nicht aber Vergebung der Sünden, Vorbereitung auf das Sterben, oder den Schutz vor dem Satan durch Engel. Diese Gottesdienstordnung ist größtenteils identisch mit der im Evangelischen Gesangbuch (12).
Die Liturgien zur Adventsandacht und Passionsandacht sind neu für die SELK (S. 469-475), aber begegnen zuvor schon im Evangelischen Gesangbuch für Bayern.
Andere Rubriken: In nahezu 100 Seiten wird eine reichhaltige Sammlung an Gebeten in verschiedener Gestalt für alle Lebenssituationen geboten (S. 1549-1643). Es gibt eine kurze Kirchengeschichte mit Schwerpunkt auf Gottesdienst (S. 1728-1748). Das neue Gesangbuch enthält außerdem Erklärungen zur Theologie des Gottesdienstes (S. 1519-1541), was für die kirchliche Unterweisung hilfreich sein wird. Das Gesangbuch bietet die drei ökumenischen Glaubensbekenntnisse, den Kleinen Katechismus und Ausschnitte aus dem Konkordienbuch, welche thematisch geordnet sind (S. 1651-1722). In der Ordnung für die Konfirmation ist die Frage, ob der Konfirmand beabsichtigt, in der Evangelisch-Lutherischen Kirche zu bleiben, optional (S. 1528).
Die Rolle der Frau: Das neue Gesangbuch ist für den Gebrauch durch weibliche Liturgen konzipiert. Wie bereits erwähnt kann das Sündenbekenntnis (Confiteor) der Komplet optional auch von einer Frau geleitet werden. Außerdem beinhalten die Erklärungen für den Gebrauch des Gesangbuches folgende Anweisung: „Die in den Liedern und Gottesdienst- und Andachtsformen verwendeten Begriffe für die jeweiligen Dienste (blaue Schriftfarbe) gelten für Personen beiderlei Geschlechts, sofern kirchliches Recht dies ermöglicht.“ (14). Das zeigt, dass die Frage, ob Frauen Gottesdienste leiten, für das neue Gesangbuch zu den Adiaphora gehört, und es sich nicht um eine Lehrfrage handelt. Diese egalitäre Sichtweise über Mann und Frau findet sich auch im Eheversprechen, welches ein und das selbe für den Ehemann und die Ehefrau ist (S.1535), anstatt der differenzierten Komplementarität von Epheser 5 zu folgen, wie es das LSB tut.
Andere theologisch fragwürdige Aspekte: Mit einem „ö“ kennzeichnet das neue Gesangbuch viele Lieder und Texte als ökumenisch, was definiert wird als „ökumenische Fassung im deutschen Sprachraum; Übereinstimmung in Text und Melodie (Stand 2021)“ (S. 15). Aber wodurch wird eine Sache ökumenisch? Der Gebrauch bestimmter Melodien und Texte durch die LWB-Landeskirchen? Oder der Gebrauch durch die römisch-katholische Kirche in Deutschland? Und warum wird einer Melodie oder einem Text, der eine Besonderheit des konfessionellen Luthertums ist, ein geringerer Rang zugemessen? Dieses ökumenische Zurschaustellen ist ein weiteres Merkmal, das aus dem Evangelischen Gesangbuch übernommen wird. Man findet es z.B. überall im EG für Bayern.
Das Bestreben, die SELK-Liturgien und Lieder an „ökumenische“ Texte anzupassen, ist deshalb äußerst problematisch, weil moderne, von ökumenischen Quellen entnommene Liturgien Themen wie Sünde, Vergebung, das Böse, Engel und Teufel beharrlich vermeiden. Ebenso vermeidet die Psalmenauswahl die Verse, welche Fluch und Rache enthalten. Das wirft die Frage auf: Wenn man absichtlich bestimmte Themen und Verse aus der Schrift vermeidet, wird dann nicht die Theologie verwässert und in der Tat die Aussage der Schrift verzerrt, indem essentielle Bestandteile vor den Leuten verheimlicht werden? Wenn es der Sinn und Zweck der Liturgie ist, den Gemeindegliedern Glaube und Furcht Gottes auf der Grundlage der Schrift zu lehren (vgl. ApolCA XXIV [XII] 3; BSELK, S. 617), wenn allerdings Teile der Schrift absichtlich vermieden werden, wie kann den Leuten gelehrt werden, was sie wissen müssen (14)?
Menschen mit Allergien oder einem Alkoholproblem gestattet das neue Gesangbuch explizit die Kommunion unter einerlei Gestalt (im Widerspruch zu CA XXII; vgl. WA Tr 5,203, Nr. 5509). Während zwar der Gebrauch von Traubensaft nicht gänzlich verworfen wird, wird zumindest davon abgeraten (S. 1532). Wem sollte das Abendmahl gereicht werden? Es wird eine Position, die man „geschlossenes Abendmahl“ nennen könnte, erläutert (S. 1532), aber das neue Gesangbuch scheint es Pastoren auch zu erlauben, solchen das Abendmahl zu reichen, deren Glaubenszugehörigkeit sie nicht kennen (im Widerspruch zu CA XXV 1; Ap XV [VIII] 40–41, BSELK, S. 536; Ap XXIV [XII] 1, BSELK, S. 616).
Zusammenfassung: Das neue ELKG2 beinhaltet viel Gutes, aber teilweise auch ernstzunehmende beunruhigende Theologie. Zu den guten Teilen gehören reichhaltige gottesdienstliche Musik und liturgische Ordnungen, die Psalmodie, und die breite Auswahl an alten und neuen Liedern. Die theologisch besorgniserregenden Teile können folgendermaßen zusammengefasst werden: (1) ökumenische Priorität, woraus die alternativen Versionen der Glaubensbekenntnisse und die theologisch schwachen Ordnungen für Gottesdienste, welche von den LWB-Landeskirchen genommen wurden, resultieren. (2) Egalitärer Feminismus. Wie lange kann eine Kirche Liturgien, welche egalitären Feminismus bekräftigen, verwenden, bis sie definitiv verworfen hat, was die Schrift zur Schöpfungsordnung und zur Komplementarität von Mann und Frau sagt? Schon jetzt werden in der SELK die Stimmen, die sich für weibliche Pastoren einsetzen, nicht zurechtgewiesen, geschweige denn diszipliniert. Von nun an können diese Stimmen sich auch auf ihr neues Gesangbuch berufen. Für konservative Pastoren der SELK (15) wird es schwer werden, gegen das zu lehren, was das Gesangbuch explizit sagt, nämlich wenn sie lehren wollen, dass Frauen keine öffentlichen Gottesdienste leiten sollten, oder dass die Glaubensbekenntnisse, die von den LWB-Landeskirchen verwendet werden, häretisch sind und niemals verwendet werden sollten.
Schönes und Erbauliches steht neben Problematischem im neuen Gesangbuch. Es gibt viel Mehrdeutigkeit, Vielseitigkeit und Vielfalt. Es handelt sich um ein schönes Buch, aber es wäre besser, wenn das alte Gesangbuch weiterhin gedruckt werden würde.
Benjamin T. G. Mayes
Endnotes
1. Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, Evangelisch-Lutherisches Kirchengesangbuch (Hannover: Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, 1987).
2. Prosper of Aquitaine, “Official Pronouncements of the Apostolic See on Divine Grace and Free Will,” in St. Prosper of Aquitaine: Defense of St. Augustine, Ancient Christian Writers 32 (New York: Newman Press, 1962), S. 183. Prosper gebraucht dieses Prinzip, um zu zeigen, dass die Gnadenlehre Augustins von der liturgischen Praxis der katholischen Kirche unterstützt wird. Dies war jedoch nicht das Hauptargument. Den Anfang macht er damit, zu zeigen, wie die Gnadenlehre zuvor von Päpsten und Konzilien auf Grundlage der Schrift bekannt wurde. Erst danach wendet er sich der Liturgie zu, um seine Argumentation zu untermauern. „Statuat“ kann schlicht „unterstützen“ bedeuten, im Gegensatz zu „entscheiden, bestimmen, etablieren“. Daher lautet „lex supplicandi statuat legem credendi“ übersetzt „die Regel des Betens soll die Regel des Glaubens unterstützen“, und nicht, wie viele meinen, „die Regel des Betens bestimmt die Regel des Glaubens“. Es sollte außerdem erwähnt werden, dass es sich bei dem liturgischen Gebet, auf welches sich Prosper bezieht, um das Vaterunser handelt. Heutzutage ist die Wendung lex orandi, lex credendi jedoch eine Erinnerung, dass gottesdienstliche Praktiken eine Auswirkung darauf haben, wie wir glauben, und dass, was wir glauben, Einfluss darauf haben sollte, auf welche Art und Weise wir Gottesdienst feiern.
3. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Evangelisches Gesangbuch: Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, 2. Auflage (München: Evangelischer Presseverband für Bayern e.V., 1995), 1145–59, Nr. 679.
4. Irene Dingel, ed., Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche: Vollständige Neuedition (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014), abgekürzt „BSELK“.
5. Gotthilf Döhler, “Altes oder ‘neues’ Apostolikum? Sieghafte Höllenfahrt Christi oder schrecklicher Abstieg in das Reich des Todes?,” Lutherischer Rundblick 21, Nr. 4 (1973): 210–32; Gotthilf Doehler, “The Descent Into Hell,” übersetzt von Walter C. Daib, The Springfielder 39, Nr. 1 (1975): 2–19.
6. Ein besserer Beichtspiegel findet sich in Jobst Schöne, Ich bekenne (Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1974).
7. Z.B. Wisconsin Evangelical Lutheran Synod, Christian Worship Psalter (Waukesha, WI: Northwestern Publishing House, 2021); Benjamin T. G. Mayes, The Brotherhood Prayer Book, 2nd ed. (Kansas City, KS: Emmanuel Press, 2007).
8. Wisconsin Evangelical Lutheran Synod, Christian Worship Psalter.
9. Vgl. Otto Brodde, “Evangelische Choralkunde,” in Leiturgia: Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, Band 4 (Kassel: Johannes Stauda-Verlag, 1961), 343–557, besonders 474–76.
10. Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, ELKG, 284.
11. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Evangelisches Gesangbuch: Bayern und Thüringen, 1256; Evangelisches Gesangbuch: Württemberg, Nr. 782.2; Evangelisches Gesangbuch: Anhalt, Berlin-Brandenburg, Nr. 786.2.
12. Vgl. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Evangelisches Gesangbuch: Bayern und Thüringen, Nr. 725; Evangelisches Gesangbuch: Württemberg, Nr. 787; Evangelisches Gesangbuch: Anhalt, Berlin-Brandenburg, Nr. 789.
13. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Evangelisches Gesangbuch: Bayern und Thüringen, Nr. 723-724.
14. Das LSB ist hier nicht unschuldig. In der Mette und im Morning Prayer wird von Ps 95 die letzte Hälfte, welche von zentraler Bedeutung für die Botschaft des Hebräerbriefes ist, ausgelassen. Von Ps 141 werden im Evening Prayer die Flüche ausgelassen, wodurch aus einem schweren und schwierigem Psalm ein schöner und angenehmer gemacht wird.
15. Z.B. hat selk_news am 18. November 2022 Werbung für eine neue Ausgabe einer YouTube Reihe von inFOyer gemacht, welche die Frauenordination befürwortet. https://www.selk.de/index.php/newsletter/9037-infoyer-mit-neuer-ausgabe-18-11-2022.